niehler freiheit e.V.

(We) take Care


„to be aware“: sich bewusst sein, für etw. die Augen offen haben, für gewisse Problematiken sensibilisiert sein


Awareness bedeutet so viel wie Aufmerksamkeit/Achtsamkeit/Bewusstheit. Auf einer Veranstaltung stellt Awareness das Bemühen dar, den Feiernden einen Raum zu bieten, in dem sich aktiv gegen jede Form von Grenzverletzung, Gewalt und Diskriminierung – zB. durch sexistische, rassistische, ableistische, homo- oder transfeindliche sowie andere diskriminierende Handlungen und Haltungen – gestellt wird, diese nicht toleriert werden und Personen, die dieses Verhalten (mit-)erleben (erlebt haben) Unterstützung finden können. 

Wir als Awareness-Team haben also die Aufgabe, einen Rahmen zu schaffen, in dem Personen, die eine Grenzüberschreitung erlebt haben, sich möglichst wohl fühlen können, zur Ruhe kommen, ein offenes Ohr finden und ihre Handlungsfähigkeit wiedererlangen können.

Auch bei uns kommt es  immer wieder zu Grenzüberschreitungen. Diese betreffen meist Personen, die ohnehin bereits von existierenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen diskriminiert werden. Oftmals werden Veranstaltungen von betroffenen Personen nach solchen negativen Erfahrungen verlassen, wodurch sich die bestehenden diskriminierenden Verhältnisse weiter manifestieren. Um das zu verhindern, ist es wichtig, dass alle Teilnehmenden einer Veranstaltung ihre Grenzen so gut es geht wahrnehmen können und diese, wie auch die der anderen respektieren, also möglichst aware sind.

Zu diesem Zweck haben wir eine Richtlinie formuliert, welche die Awareness aller Besucher*innen fördern und das Etablieren von Awareness-Strukturen in der Niehler Freiheit erleichtern soll.



NIEHLER FREIHEIT AWARENESS-DOKUMENTE 

Neben diesem ausführliche Konzept stehen Gäst*innen und Awareness-Teams der Niehler Freiheit folgende Dokumente zur Verfügung: 

Aushänge – unseren Code of Conduct = was wir von den Menschen erwarten, die zu uns in die Niehler Freiheit kommen (auf dem Gelände verteilt)

Zine – der Code of Conduct zum Mitnehmen, mit Kontaktmöglichkeiten (wird am Kioskhäuschen/an der Bar zur Verfügung gestellt)

Fahrplan zur Nüchternheit – für Awareness-Teams



AWARENESS: GRUNDLAGEN, BEGRIFFE

Awareness ist ein Ansatz der Achtsamkeit im Umgang miteinander, wodurch ein Bewusstsein für die eigenen, die Grenzen anderer sowie ein Bewusstsein für (strukturelle) Machtverhältnisse geschaffen werden soll. Es liegt in der Verantwortung aller (Gästinnen, Veranstalterinnen, Artists etc.), ob sich bei der Veranstaltung alle wohlfühlen können. 

Rücksicht und Aufmerksamkeit: Das höchste Ziel der Auseinandersetzung mit Awareness-Arbeit und -Strukturen ist ihre eigene Abschaffung. Denn: Wenn die Gesellschaft in sich aware ist, braucht es diese Strukturen nicht mehr. Aus diesem Grund sind Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme zwei wichtige Aspekte von Awareness im Allgemeinen. Verhaltet Euch rücksichtsvoll und achtet aufeinander. Wenn Ihr bemerkt, dass es einer Person nicht gut geht, sprecht sie an und fragt, ob sie Hilfe benötigt. 

Awareness ≠ Polizei: Das Awareness-Team ist keine Kontroll- und Sanktionsinstanz Awareness-Arbeit basiert auf Konsens mit der betroffenen Person. Die Awareness wird als Unterstützung nur dann aktiv, wenn Hilfe gewünscht ist. Sie darf dafür aktiv auf Betroffene zugehen und Unterstützung anbieten. 

Unsere Awareness-Arbeit basiert auf einem aktiven Verstand folgender Begriffe:  

  •  Diskriminierung: ...ist ein soziales Phänomen der Benachteiligung, Abgrenzung und Abwertung. Gruppen oder einzelne Personen werden aufgrund (vermeintlicher) Merkmale wie Geschlechtsidentität, Hautfarbe, Herkunft, Körper oder auch Disability benachteiligt, abgewertet und unterdrückt. Dabei ist unser Ansatz intersektional: wir beachten die oftmals mehrfache Diskriminierung marginalisierter Gruppen und Personen. 
  • Selbstbezeichnung: Menschen werden oft mit Kategorien oder Bezeichnungen betitelt, die ihnen von außen zugewiesen wurden.. Diese Zuweisungen entspringen oft historischen, gesellschaftspolitischen Machtverhältnissen, weshalb die Verwendung dieser Fremdbezeichnungen zur Reproduktion der Diskriminierung beiträgt.  Selbstbezeichnungen dagegen sind Namen, die eine gesellschaftlich marginalisierte Gruppe für sich wählt. Die Verwendung von Selbstbezeichnungen dienen dem Empowerment.Beispiel: Mit welchen Pronomen (sie/ihr, dey/dem, er/ihm, …) möchte eine Person angesprochen werden? Bei Unsicherheit darüber, wie eine Person oder Gruppe angesprochen oder bezeichnet werden möchte, ist es gut, nachzufragen. Ausdrücke wie „Die Person wird von mir als ... gelesen“ lässt die tatsächliche Zugehörigkeit zu einer Gruppe offen. 
  • Privilegien: Als Privilegien werden gesellschaftliche Vorteile bezeichnet, die Menschen aufgrund einer vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich konstruierten Gruppe haben. Durch Privilegien eröffnen sich Handlungsmöglichkeiten und Handlungsräume. Personen, denen eine gesellschaftliche „Normalität“ (z.B.: weiß, männlich, cisgender, able-bodied usw.) zugeschrieben wird, profitieren in der Gesellschaft von bestimmten Privilegien. Menschen, die diese Privilegien nicht haben, werden strukturell benachteiligt.
  • Parteilichkeit (Betroffenenperspektive): Eine Grundlage von Awareness ist Parteilichkeit. Parteilichkeit heißt in Bezug auf Diskriminierung oder Gewalt, dass keine neutrale Haltung gesucht werden muss. Das Awareness-Team handelt immer parteilich im Sinne der betroffenen Person(en). Das bedeutet, dass die betroffene Person einen geschützten Rahmen bekommt(en), um von ihren Erfahrungen berichten zu können, ohne dabei mit Wertung oder Urteilen konfrontiert zu werden. Das Erzählte wird nicht bewertet, sondern so angenommen, wie es die betroffene Person erlebt hat.
  • Definitionsmacht: ...beinhaltet, dass betroffene Personen selbst definieren, wo ihre Grenzen liegen, ob und wie diese überschritten wurden,  welche Form von (sexualisierter) Gewalt oder Diskriminierung sie erleiden mussten. Diese Definition ist nicht zwangsläufig starr: Manchmal ändern Betroffene auch die Benennung über die Zeit.
  • Konsens – Nur ja heißt ja! (Einvernehmlichkeit). Konsens beinhaltet eine aktive Zustimmung, ein aktives Ja und nicht die Abwesenheit eines Neins – Nein heißt Nein und NUR Ja heißt Ja! Konsens ist eine Methode zur Reflexion und Kommunikation von persönlichen Bedürfnissen, Grenzen und Wünschen. 


UMSETZUNG VON AWARENESS-STRUKTUREN IN DER NIEHLER FREIHEIT

  • Awareness-Team: Das Awareness Team besteht aus 4 Personen 
    • 1x NF-Mitglied mit Awareness Erfahrung
    • 1 mobiles Team aus mehreren Personen inkl. 1 mit Erste Hilfe Kompetenz, die sich konstant über das Gelände bewegen.
    Das Team wird dann aktiv, wenn es auf grenzüberschreitendes oder diskriminierendes Verhalten aufmerksam wird oder eine davon betroffene Person um Hilfe bittet. Das Awareness-Team handelt solidarisch und im Konsens mit der betroffenen Person.
  • Walkie-Talkies: Die Menschen des Awareness-Team bekommen am Anfang ihrer Schicht ein Walkie-Talkie pro Team, um sich gegenseitig erreichen zu können. Der Kanal wird vorab zusammen mit der Schichtleitung abgesprochen. 
  • Awareness-Point/Kioskhäusschen: Dies ist der feste Ort, an dem immer eine Person des Awareness-Teams anzutreffen sein sollte. Außerdem werden dort unsere Zines zur Verfügung gestellt.
  • Awareness-Raum: In der Teeküche befindet sich unser Awareness-Raum. Dort finden sich neben dem Erste Hilfe Kasten, Tee, Wärmflaschen, Decken und Fidget toys (Knete, Stifte, Knicklichter…). Der Raum ist kein Raum für jeglichen Konsum oder Aufenthalt, sondern dient ausschließlich als Rückzugsort im Awareness-Fall. Hier kann die Awareness-Schicht zwischendurch auch mal nachsehen, dass dieser Space für diejenigen bereit steht, die ihn brauchen.
  • Übergabe: Alle sollten vor ihrer Schicht eine Übergabe bekommen haben und bei Schichtantritt bereit und aufmerksam erscheinen. Bei der Schichtübergaben werden alle Fälle von übergriffigem und grenzüberschreitendem Verhalten an die Helfer*innen der nächsten Awareness-Schicht weitergegeben, um Betroffene nahtlos zu schützen. Wenn es einen offenen Fall gab, wird ein schriftliches Protokoll an die nächste Schicht weitergegeben. Die Schichtübergabe dient außerdem dazu, die eigenen Grenzen im Awareness- Team zu kommunizieren und sich im Team darüber auszutauschen.
  • Vertraulichkeit: Es unterliegt alles, was dem Awareness-Team erzählt wird, einer Schweigepflicht, wird also immer vertraulich behandelt.
  • Sichtbarkeit und Erreichbarkeit: Das Awareness-Team ist klar an den pinken Westen erkennbar, am Kassenhäuschen stationiert und auch über Bar und Schichtleitung zu erreichen.
  • Nach der Veranstaltung
    • Für Gäste: Es bestehen Vordrucke, um das Geschehene schriftlich festzuhalten und um allen Beteiligten die Kontaktdaten unserer Awareness mitgeben zu können. So kann auch nach Beendigung der Veranstaltung noch einmal der Kontakt zur Awareness gesucht werden 
    • Für Niehler Freiheit Mitglieder: Es erfolgt eine interne Nachbesprechung in der Awareness-AG 
    • Externe Awareness-Helfis sind herzlich eingeladen, sich bei Bedarf im Nachinein zu melden, um Erlebnisse nachzubesprechen


WAS TUN WENN‘S BRENNT? EMPFEHLUNGEN FÜR DIE PRAKTISCHE ARBEIT IM AWARENESS-TEAM

Grenzen sind subjektiv! Nur die Betroffenen selbst können sagen, wann sie etwas als grenzüberschreitend wahrgenommen haben. Das Awareness-Team sollte dies auf keinen Fall in Frage stellen (siehe oben “Definitionsmacht”). Sollte das Awareness-Team nach eigener Einschätzung mögliches grenzüberschreitendes Verhalten beobachten, kann auf potentiell betroffene Personen zugegangen werden, um Unterstützung anzubieten. Sollte dies nicht gewünscht sein, so muss auch das akzeptiert werden. 

Wenn eine Person eine Grenzverletzung erlebt hat, ist unser Ziel als Awareness-Team, dass die Person wieder handlungsfähig wird. Dabei orientierst Du Dich als Awareness-Person im Falle eines A-Falles an die oben genannten Grundbegriffe:

  • Dafür kannst Du zB. fragen, was sie gerade braucht / was ihr gut tun würde (Unterstützung anbieten)
  • In Gesprächen sollte den betroffenen Personen der nötige Raum zum Erzählen gegeben und zugehört werden (Aufmerksamkeit, Empathie) 
  • Das Erlebte bzw. die Schilderungen von Betroffenen sollten auf keinen Fall in Frage gestellt werden (Parteilichkeit). Es wird nicht über die Situation mit der betroffenen Person diskutiert und es wird nicht versucht herauszufinden, was „wirklich” passiert ist. Stattdessen fragen wir die betroffene Person, was sie benötigt, um mit dem Erlebten umgehen zu können, um so die Situation für die Person zu verbessern. 
  • Bei jeder Art von Körperkontakt, z.B. zum Trösten vorher um Erlaubnis fragen! 

Du kannst außerdem folgende Sachen anbieten: 

→ gemeinsam in den Awareness-Raum zurückziehen, um zu Ruhe zu kommen
→ Tee + Wärmflasche
→ Befreundete Personen suchen
→ Unterstützung bei einem (gemeinsamen) Gespräch mit ausübender Person
→ eine Runde an die frische Luft spazieren gehen


Was ist, wenn eine Situation meine Handlungsmöglichkeiten überschreitet?

In dem Falle kannst Du die anderen Menschen im Awareness-Team, unseren Türsteherin oder die Schichtleitung hinzuziehen. In schwierigen Situationen, die vielleicht konflikthaft oder sogar eskalativ werden könnten, solltest Du Dir zuerst immer Support suchen. Oft reicht es bereits, wenn andere Personen hinter dir stehen und non-verbal ihre Unterstützung signalisieren. Hierbei ist wichtig, dass weiterhin eine Person die Kommunikation übernimmt und nicht mehrere Menschen auf die Gesprächsperson einreden.

Wenn Du als Support hinzugezogen wurdest: Du unterstützt erstmal passiv die klärende Person. Keine internen Diskussionen oder Infragestellung des Vorgehens in der akuten Situation! Sollte das Gespräch eskalieren bzw. die gesprächsführende Person Überforderung signalisiert und Du möchtest einen neuen Versuch der Deeskalation starten, kannst Du die Gesprächssituation im absoluten Ausnahmefall übernehmen. Wenn Du nur unzufrieden oder nicht einverstanden bist, kann das später in der Reflexion thematisiert werden.

Wenn eine Person sich (physisch, psychisch, emotional) gewaltvoll verhält oder ihr Verhalten trotz Aufforderung nicht ändert, kann die letzte Konsequenz ein Rauswurf für sein. Hausverbote werden nur in Abstimmung mit den anderen Awareness-Menschen und der Schichtleitung ausgesprochen und im Nachhinein in der Gesamtgruppe besprochen.

WICHTIG: Achte auf deine eigenen Grenzen! Das Awareness-Team kann nur zur Verbesserung der Situation beitragen, wenn die Wünsche der betroffenen Person mit den eigenen Grenzen übereinstimmen – das bitte immer ehrlich und transparent kommunizieren! Die Frage muss immer sein: Bin ich gerade die richtige Person, um mit der Situation umzugehen / traue ich mir das zu? Werde ich selbst durch die Situation in einem Maße belastet, das ich mich lieber hinausziehen möchte? Du kannst immer deine Kolleg*innen im Team dazu holen und bitten, zu übernehmen!


Zu diesem Konzept

Dieses Dokument ist eine Mischung aus vielen verschiedenen Texten und wurde durch die Awareness-AG der Niehler Freiheit im April 2025 zuletzt überarbeitet. Diesen Text findet seine Inspiration in früheren Konzeptentwürfe sowie  in einem Text von AwareMess (ein Zusammenschluss einiger motivierter Menschen auf der ECMC 2019 in Brüssel) und wurde an die Besonderheiten der Niehler Freiheit – als Ort und als Kollektiv – angepasst. 

2025 soll noch das Konzept um einen weiteren Teil über Awareness bei kleineren Kultur-VAs in der Niehler ergänzt werden.